Deutschsprachiges Webinar zu Rahmenvereinbarung und Koalitionsprogramm der neuen niederländischen Regierung: eine Zusammenfassung
Am 2. Juli 2024 wurde das Kabinett Schoof vereidigt. Die Koalitionsparteien PVV, VVD, NSC und BBB hatten sich nach einem mühsamen, 223 Tage dauernden Sondierungsprozess auf eine Rahmenvereinbarung geeinigt. Diese wurde von der neuen Regierung zu einem Regierungsprogramm weiter ausgearbeitet, das schließlich im September vorgestellt wurde. In einem deutschsprachigen Webinar am 10. Oktober 2024 informierte das Team von Grenspost Düsseldorf deutsche und niederländische Kollegen über beide Dokumente und die möglichen Konsequenzen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Das Webinar begann mit einem Rückblick auf die Wahlergebnisse. Die PVV (Geert Wilders) ist aus den Parlamentswahlen als größte Partei hervorgegangen und verfügt nun über 37 der 150 Sitze im Parlament. GroenLinks-PvDA (Frans Timmermans) erhielt 25 Sitze und wurde stärkste Oppositionspartei. Denn es gelang Geert Wilders, eine Koalition mit der VVD (Dilan Yesilgöz, 24 Sitze), der neuen Partei Nieuw Sociaal Contract (NSC, Pieter Omtzigt, 20 Sitze) und der Bauer-Bürger-Bewegung BBB (Caroline van der Plas, 7 Sitze) zu bilden. Im Parlament haben diese vier Parteien mit 88 von insgesamt 150 Sitzen eine Mehrheit. Dick Schoof, ehemaliger Generalsekretär im Ministerium für Justiz und Sicherheit, wurde (parteiloser) Ministerpräsident.
Die deutliche Verschiebung nach rechts ist in der Ersten Kammer – deren Mitglieder im März 2023 (von den Provinzparlamenten) gewählt wurden – viel weniger stark ausgeprägt: Hier hat die PVV nur vier der 75 Sitze, die NSC keinen und die VVD zehn. Die BBB ist in der Ersten Kammer mit 16 Sitzen die größte Partei. Mit 30 der insgesamt 75 Sitze haben die vier Parteien der Regierung keine Mehrheit in der Ersten Kammer. Sie benötigen die Unterstützung anderer Parteien, um Pläne durchzusetzen. Bevor neue Gesetze oder Gesetzesänderungen in Kraft treten können, müssen diese auch in der Ersten Kammer angenommen werden.
Rahmenvereinbarung
Die im Mai 2024 präsentierte Rahmenvereinbarung, die die wesentlichen Punkte enthält, auf die sich die Koalitionsparteien geeinigt haben, umfasst 26 Seiten und trägt den Titel „Hoffnung, Mut und Stolz“. Die wichtigsten Eckpunkte dieser Vereinbarung:
- Steuererleichterungen ab 2025 für die „hart arbeitenden Niederländer“, jung und alt, wie z.B. Bezieher eines mittleren Einkommens und Unternehmer; außerdem auch für Menschen, deren Existenzgrundlage bedroht ist.
- Das strengste Asylgewährungssystem und das umfassendste Paket zur Migrationskontrolle aller Zeiten.
- Wohnungsbau, Infrastruktur, Verkehrsanbindung und Energiewende sollen einen kräftigen Schub erhalten.
- Die Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen soll bis 2027 auf 165 € reduziert und damit mehr als halbiert werden. Es soll in die Altenpflege investiert werden.
- Landwirte und Fischer sollen wieder „Chef im eigenen Betrieb“ werden. Die Regierung will einen Impuls für die Zukunft dieser Sektoren setzen und die Ernährungssicherheit für alle gewährleisten.
- Mehr Mitspracherecht für die Bürger durch ein geändertes Wahlsystem und die Stärkung der Grundrechte durch ein Verfassungsgericht.
- Mehr Sicherheit für die Niederländer durch ein entschlossenes Vorgehen gegen Kriminalität und Terror.
Von der Rahmenvereinbarung zum Regierungsprogramm
Die Rahmenvereinbarung wurde in einem Regierungsprogramm weiter ausgearbeitet, das im September 2024 vorgelegt wurde. Es enthält vielfach keine konkreten Angaben darüber, wie genau und mit welchen finanziellen Mitteln die Absichten und Pläne umgesetzt werden sollen. Das Regierungsprogramm wurde auf der Grundlage von zehn Hauptpunkten verfasst:
- Existenzsicherung und Kaufkraft
- Kontrolle von Asylwesen und Migration
- Wohnen und Wohnungsbau, Infrastruktur, öffentlicher Verkehr und Luftfahrt; jede Region zählt
- eine gute Zukunft für Landwirtschaft und Fischerei, für Ernährungssicherheit und für die Natur
- Energie, Versorgungssicherheit und Klimaanpassung
- zugängliche öffentliche Leistungen: Gesundheit und Bildung
- gute Staatsführung und starker Rechtsstaat
- nationale Sicherheit
- internationale Sicherheit
- solide Staatsfinanzen, Wirtschaft und Investitionsklima
Während des Webinars wurden insbesondere die Themen Landwirtschaft und Natur, Raumplanung, Mobilität sowie Asylwesen und Migration beleuchtet. Dies sind Punkte, die für die Provinzen in der bilateralen Zusammenarbeit wichtig sind bzw. in Deutschland viel Aufmerksamkeit erhalten.
Landwirtschaft und Natur
Das Kabinett bekennt sich zu den Verpflichtungen, die aus (inter)nationalen Gesetzen und Verordnungen in Bezug auf Natur, Artenvielfalt und Klima hervorgehen.
- Eine effizientere, innovative Landwirtschaft sichert den Schutz der Natur und der Artenvielfalt.
- Keine erzwungene Reduzierung des Viehbestands oder Zwangsenteignung im Zusammenhang mit „Stickstoffzielen“ und anderen Zielen für Umwelt und Natur.
- Lenkungsziele für Landwirte mit machbaren betriebsspezifischen Normen für Klima und Stickstoffemissionen, die den Unternehmern ausreichend Zeit für die Erreichung der Ziele einräumen. Dafür muss eine Stoffstrombilanz entwickelt werden.
- Bis 2030 müssen die CO2-Emissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden. Die dazu getroffenen Vereinbarungen bleiben bestehen.
- Die Stickstoffpolitik ändert sich dahingehend, dass künftig der Stickstoff-Ausstoß anstelle des Stickstoff-Eintrags zugrunde gelegt wird.
- Für agrarische Stoffe gelten Steuererleichterungen.
- Anträge auf weitere Ausnahmen von der europäischen Nitratrichtlinie.
- Das nationale Programm für den ländlichen Raum „Nationaal Programma Landelijk Gebied“ wird beendet.
- Die Natur kann nicht von der Landwirtschaft getrennt betrachtet werden. Die Verknüpfung von Natur und Landschaft schafft mehr Spielraum für Anpassungen in beiden Bereichen.
- Einmalige Investition von 5 Milliarden Euro für mehrjährige Programme im Agrarsektor.
- Zusätzlich stehen 500 Millionen Euro pro Jahr für den landwirtschaftlichen Naturschutz durch Landwirte zur Verfügung.
Weder die grenzüberschreitende Zusammenarbeit (GROS) noch Deutschland oder Nordrhein-Westfalen werden im Regierungsprogramm in Bezug auf Landwirtschaft und Natur erwähnt.
Raumordnung
- Jährlicher Bau von 100.000 angemessenen und bezahlbaren Wohnungen.
- Knapper Raum soll gerecht verteilt werden.
- Bestehende Gebäude sollen besser genutzt werden.
- Das Kabinett investiert 2,5 Milliarden Euro in die Infrastruktur für Wohnungsbaugebiete.
- Beseitigung von Hindernissen auf nationaler und lokaler Ebene.
- Windparks werden, soweit wie möglich, auf See und nicht an Land gebaut.
- Die Vorbereitungen für den Bau von zwei Kernkraftwerken werden fortgesetzt. Zusätzlich zu den bereits eingeleiteten Schritten für die Realisierung dieser beiden Kernkraftwerke baut die Regierung zwei weitere Kernkraftwerke in den Niederlanden und berücksichtigt auch die Möglichkeiten für mehrere kleine Kraftwerke.
Mobilität
- Schwerpunkt auf der Erhaltung der bestehenden Infrastruktur.
- 2,5 Milliarden Euro für neue Investitionen in Wohnen und Verkehrsanbindung.
- Die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen wird – wo möglich – auf 130 Stundenkilometer erhöht.
- Verbesserung des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Gebieten. Hierfür stehen jedoch keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung.
- Geplant ist ein Vorschlag für grenzüberschreitenden Schienenverkehr, einschließlich der Anbindung von fünf niederländischen Bahnhöfen an Hochgeschwindigkeitsstrecken jenseits der Grenze.
- 2025 neue politische Agenda für den Güterverkehr auf der Straße, der Schiene und dem Wasserweg. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einem Ansatz, der gleichzeitig die Versorgungssicherheit, die Energiewende und die Bekämpfung von Verkehrsstaus berücksichtigt.
- Maßnahmen für eine verbesserte Schiffbarkeit von insbesondere IJssel und Waal.
Nicht Teil des Regierungsprogramms, aber dennoch erwähnenswert ist, dass der Staatsrat am 2. Oktober dem Planfeststellungsbeschluss A12/A15 zugestimmt hat. Das bedeutet, dass die Autobahn A15 bei Arnheim verlängert und an die A12 angeschlossen werden kann, was eine schnelle Verbindung zur deutschen A3 ermöglicht.
Asyl und Migration
Was in der Rahmenvereinbarung als die strengste Zulassungsregelung für Asyl und die umfassendste Migrationskontrolle bezeichnet wird, beinhaltet im Einzelnen:
- Abschaffung der unbefristeten Asylbewilligung im Vorgriff auf eine strukturelle Änderung durch das Asylreformpaket.
- Ausweitung der „Unerwünschtheitsfeststellung“, um sie bei Straftaten häufiger zu ermöglichen.
- Abschaffung des Absichtsverfahrens.
- Abschaffung der Möglichkeit zum Nachzug volljähriger Kinder.
- Strengere Prüfung neuer Tatsachen und Umstände.
- Gesetzliche Möglichkeit, Anträge als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn Ausländer nicht zu einer Anhörung erscheinen.
- Stärkung der Position von Arbeitsmigranten auf dem Arbeitsmarkt und ihrer Teilhabe an der Gesellschaft. Unseriöse Arbeitsvermittlungsbüros werden eingedämmt.
Nicht Teil des Regierungsprogramms, aber derzeit Gegenstand heftiger politischer Debatten ist die Anwendung des Notstandsrechts zur weiteren Verschärfung der Asylpolitik. Für asylpolitische Maßnahmen im Rahmen des Notstandsrechts benötigt das Kabinett keine vorherige Zustimmung des Parlaments und der Ersten Kammer. Die Zustimmung wird nachträglich eingeholt. Allerdings muss das Kabinett rechtlich begründen, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Es handelt sich hierbei um eine Absprache aus der Rahmenvereinbarung, auf die der PVV-Fraktionsvorsitzende Wilders großen Wert legt. Die Mehrheit der Ersten Kammer lehnt die Anwendung des Notstandsrechts zur Verschärfung der Asylpolitik ab: Eine Mehrheit von GroenLinks-PvdA, CDA, D66, SP, ChristenUnie, Partij voor de Dieren, Volt, SGP und OPNL bezeichnete diesen Weg als „unerwünscht“ und verabschiedete einen entsprechenden Antrag.
Europäische Zusammenarbeit
Das Thema „Europäische Zusammenarbeit“ nimmt im Regierungsprogramm lediglich eine Seite ein. Deutschland wird im gesamten Regierungsprogramm dreimal erwähnt, insbesondere im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
- Europa wird vor allem in den Bereichen Frieden, Sicherheit, Wohlstand, wirtschaftliche Vorteile, Schutz des demokratischen Rechtsstaates, der Grundrechte und der persönlichen Freiheiten der Bürger eine besondere Bedeutung beigemessen.
- Das Kabinett will sich bei der EU vorrangig für die Verwirklichung der niederländischen Interessen in den Bereichen Asyl und Migration, einschließlich der Begrenzung des Umfangs und der Kontrolle aller Arten von Migration, sowie im Bereich der Agrarpolitik und der EU-Haushaltsverhandlungen einsetzen.
- Die Zusammenarbeit mit anderen Ländern – unter anderem mit Deutschland – ist wichtig in Fragen der Verteidigungs-, Handels- und Industriepolitik, wobei die nationalen Interessen konsequent verfolgt werden.
- Die Niederlande stehen der Erweiterung der Europäischen Union sehr kritisch gegenüber.
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Wie genau die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in diesem Kabinett aussehen wird, ist noch nicht ganz klar. Die Anwesenheit der Ministerin für Inneres und Königreichsbeziehungen Judith Uitermark (NSC) auf der Grenzlandkonferenz in Krefeld im September 2024 kann auf jeden Fall als positives Signal für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gewertet werden. In ihrer Rede ging sie u.a. auf die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für attraktive Städte und Dörfer, Sicherheit, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ein. Klar ist auch, dass das Programm „Regionen an der Grenze“ weitergeführt wird, wobei das Ministerium für Inneres und Königreichsbeziehungen eine koordinierende Rolle übernehmen wird. Allerdings verfügt das Programm nicht mehr über ein eigenes Budget, stattdessen müssen die Mittel je nach Thema von den zuständigen Ministerien bereitgestellt werden. Darüber hinaus wurde eine enge Zusammenarbeit mit den Nachbarländern angekündigt, um die Auswirkungen von Grenzen zu verringern, und es gibt positive Signale für eine Fortsetzung der strukturellen Finanzierung der GrenzInfoPunkte. Zudem wird derzeit auch ein Termin für die deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen gesucht. Dies deutet auf Stabilität in den Beziehungen hin. Auch die bestehenden Beratungsstrukturen auf der Ebene der niederländischen Provinzen und ihrer deutschen Partner bleiben wie gewohnt bestehen.
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Bild: der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof © Rijksoverheid/Martijn Beekman